Zwischen Widerstand und Nötigung

Die Juraprofessorin Katrin Höffler rechtfertigt auf einer Podiumsdiskussion der Goethe-Uni die Aktionen der Letzten Generation. Der frühere Bundesrichter Thomas Fischer widerspricht ihr. Beide streiten darüber, was eigentlich Gewalt ist.

Von Sascha Zoske

Es wirkt etwas kurios, dass die Störer ausgerechnet dann aktiv werden, als Katrin Höffler spricht. Was die Leipziger Strafrechtsprofessorin vorträgt, ist im Grunde eine Apologie der Protestform, welche die Hörsaalbesetzer von „End Fossil“ am 6. Dezember 2022 an der Goethe-Uni praktiziert haben. Über den damaligen Polizeieinsatz in ebenjenem Hörsaal, in den nun die Podiumsdiskussion mit Höffler und anderen Experten stattfindet, beschweren sich die Zwischenrufer lautstark. Ein Mann, der seine FFP2-Maske vermutlich nicht um des Virenschutzes willen trägt, verteilt Flugzettel. Danach kann Höffler weiterreden.

Wegen der Unterbrechung ist sie nicht verärgert – wie könnte sie auch. Die Rechtswissenschaftlerin, die früher als Richterin und Staatsanwältin tätig war, spricht sich am ersten Abend der neuen Uni-Veranstaltungsreihe zu Klima und Recht vehement gegen eine „Kriminalisierung“ von Klimaprotesten aus. Sie nennt das Tun der Letzten Generation unter Berufung auf Habermas einen „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“. Die Juristin warnt davor, die Gruppe in die Nähe von Terroristen zu rücken oder sie als kriminelle Vereinigung zu behandeln. Für Letzteres seien die Rechtsbrüche der Aktivisten nicht gravierend genug, ihr Zweck sei auch nicht verwerflich, sondern lobenswert. Auch verfolge die Letzte Generation mit ihren „in der Regel ungefährlichen“ Aktionen keine extremistischen Ziele, sondern stelle maßvolle Forderungen wie etwa nach einem Tempolimit.

Höffler mahnt, die Diskreditierung der Gruppe als „Klima-RAF“ könne bei den Aktivisten ein „Gefühl des Ausgegrenztseins“ verstärken, das sie womöglich zu radikaleren Aktionen treibe. „Der Staat sollte mit Augenmaß reagieren“, verlangt die Professorin und wandelt eine Sentenz des Rechtswissenschaftlers Franz von Liszt ab: „Gute Klimapolitik ist gute Kriminalpolitik.“ Ihrer Meinung nach kann „ziviler Widerstand“, wie ihn die Aktivisten praktizierten, ein „Motor“ sein, um die Gesellschaft voranzubringen.

Später ergänzt Höffler ihre Argumentation mit einer Bemerkung, die im Kontext des Abends doch ein wenig nach Whataboutismus klingt: Statt über die Behinderungen von Autofahrern durch die Klimakleber zu klagen, solle man mehr über die 800.000 Menschen reden, die jedes Jahr durch Umweltverbrechen vorzeitig stürben. Dem Zuhörer kommt in den Sinn, dass es interessant wäre, einmal zu untersuchen, ob die Nachrichten über die Letzte Generation in den Medien tatsächlich mehr Raum einnehmen als Berichte über Naturzerstörung und deren Folgen.

„Klimaschutz ist existenziell wichtig.“ Das sagt nicht Höffler, sondern Thomas Fischer. An diesem Abend ist er auch auf dem Podium, auf dem noch zwei Forscher der Unis Frankfurt und Darmstadt sitzen, der einzige echte Widerpart der Leipziger Juristin. Der frühere Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, bekannt als wortgewaltiger Kolumnist mit Hang zur Provokation, ergänzt sein Diktum allerdings mit einem Nebensatz: Existenziell seien auch andere Menschheitsübel wie etwa die Bedrohung des Weltfriedens und der Hunger in Afrika.

Eine Art Notstandsrecht auf Störung der öffentlichen Ordnung lässt sich für Fischer aus all diesen Krisen nicht ableiten. Das Handeln der Letzten Generation und anderer radikaler Aktivisten erfülle die Tatbestände von Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Nötigung, gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und vielleicht sogar der Nötigung eines Verfassungsorgans, wenn die Regierung gezwungen werden solle, schärfere Klimagesetze zu beschließen.

Auch Fischer will deswegen nicht „einen Strafbefehl nach dem anderen erlassen“. Doch es sei nicht hinzunehmen, dass die Letzte Generation „Zehntausende unbeteiligte Menschen“ gegen deren Willen zu „Demonstrationsteilnehmern“ mache. Anders als Höffler sieht er in Straßenblockaden eindeutig einen Gewaltakt, auch wenn hier keine unmittelbare körperliche Kraft auf andere ausgeübt wird.

Irritierend findet der ehemalige Bundesrichter, dass der Gewaltcharakter in diesem Fall ausgerechnet von jenen bestritten werde, die sonst alle möglichen Formen von psychischer, sozialer oder struktureller Gewalt in der Gesellschaft beklagten. Auf den Hinweis Höfflers, dass Sitzblockaden in keinem anderen europäischen Land von Gerichten als Nötigung gewertet würden, reagiert Fischer später indirekt mit der Frage, was geschehen würde, wenn man solche Protestformen legalisierte. Würden auch Gruppen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, die nicht die Klimakrise, sondern die Migrationskrise für existenziell hielten? „Dann steht übermorgen die AfD auf der Straße.“

Das Reflektieren über unerwünschte politische Konsequenzen der Klimakleberei nimmt an diesem Abend ansonsten nicht viel Raum ein. Es würde aber gerade jenen Wissenschaftlern gut anstehen, die in den Aktionen der Letzten Generation ein demokratieförderndes Momentum zu erkennen glauben: Was, wenn der genervte Handwerker im Stau nicht wie erhofft ein grünes Bewusstsein entwickelt und stattdessen aus Ärger bei der nächsten Wahl seine Stimme den Blauen gibt?

Von Sascha Zoske aus der F.A.Z., 21.10.2023, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 5. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv