FRANKFURT Folgt man den Experten, dann wird das Haus der Demokratie auf dem Paulsplatz gebaut. Der Aufschrei wäre programmiert: Es geht um eine der wenigen funktionierenden Freiflächen der Stadt.
Von Matthias Trautsch
Von einem „dialektischen Ort der Demokratie“ spricht der Politikwissenschaftler und Philosoph Rainer Forst. Die Paulskirche stehe für die komplizierte, von Brüchen und Rückschlägen gekennzeichnete Entwicklung Deutschlands zur Demokratie. Dialektik – das ist für Forst, der die Tradition der Kritischen Theorie an der Goethe-Universität fortführt, ein Kernbegriff der politischen Analyse. Und tatsächlich lässt sich die Idee, dass jede gesellschaftliche Bewegung ihren Widerspruch nicht nur provoziert, sondern dessen Keim auch schon in sich trägt, an der Geschichte und Wirkungsgeschichte des Paulskirchenparlaments ausgezeichnet illustrieren.
Nun, 175 Jahre nachdem die erste deutsche Nationalversammlung zusammengetreten ist, bahnt sich ein Konflikt an, der ebenfalls dialektische Züge trägt. Der Bund, das Land Hessen und die Stadt Frankfurt sind sich einig, dass die Paulskirche als einzigartiger Ort der deutschen Demokratiegeschichte angemessen, also besser als derzeit, präsentiert werden müsse. „Die Paulskirche hat noch Luft nach oben“, sagt Volker Kauder und zitiert damit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Kauder, langjähriger Bundestagsabgeordneter und Unions-Fraktionschef, hat die Expertenkommission geleitet, die im April ihre Empfehlung für die Zukunft der Paulskirche und des Hauses der Demokratie vorgelegt hat.
Dass die Paulskirche einer baulichen Erneuerung bedarf, ist lange bekannt und unstrittig. Auch die Pläne für ein Haus der Demokratie, das den historischen Ort erweitern soll, werden einhellig befürwortet. Der Deutsche Bundestag hat Investitionen von bis zu 19 Millionen Euro zugesagt. Es geht bei dem Vorhaben also nicht um das Ob, sondern um das Wie. Diese Frage beantwortete die Expertenkommission wie folgt: Damit Paulskirche und Haus der Demokratie zum „Ort mit internationaler Strahlkraft zur Reflexion über Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ werden können, müssen sie eine bauliche und konzeptionelle Einheit bilden.
Konkret soll dies dadurch gelingen, dass die Paulskirche modernisiert wird, aber weitgehend die Gestalt behält, die ihr der Architekt Rudolf Schwarz beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Im Umkehrschluss: Eine Rekonstruktion des Erscheinungsbildes anno 1848 ist nicht gewünscht. Das geplante Demokratiezentrum soll direkt an die Kirche anschließen, beide Gebäude sollen über einen gemeinsamen Eingang vom Paulsplatz zu betreten sein. Im Ensemble und online soll die politisch-historische Bedeutung der Paulskirche mit Ausstellungen und anderen Formaten dargestellt werden, das Haus der Demokratie soll Raum bieten für weitere Veranstaltungs- und Vermittlungsangebote, politische Diskussionen und gesellschaftliche Partizipation.
So weit, so konsensfähig. Um es in den Worten Kauders zu sagen: Es soll eine Einrichtung entstehen, die „einzigartig in Deutschland und Europa“ ist. Bleibt die Frage, wie die angestrebte „bauliche und konzeptionelle Einheit“ gelingen soll. Die Antwort der Expertenkommission: Das Haus der Demokratie soll neben der Kirche auf einem Teil des Paulsplatzes errichtet werden. Also jenes Platzes zwischen Berliner Straße, Neue Kräme und Braubachstraße, der seit dem Zweiten Weltkrieg eine nur von Platanen bestandene, teils für Außengastronomie genutzte Freifläche ist.
Schon rein formal wird das nicht leicht durchzusetzen sein. Denn im Koalitionsvertrag der Römer-Koalition von Grünen, SPD, FDP und Volt steht ein Satz, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt: „Die Bebauung des Paulsplatzes lehnen wir ab.“ Würde der Platz dennoch bebaut, dann begänne die Geschichte des hochambitionierten Demokratiezentrums mit einem Verstoß gegen die Absprache der demokratisch gewählten Stadtregierung. Das kann man dialektisch nennen, in jedem Fall wäre es paradox.
Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums und Mitglied der Expertenkommission, gehört zu den Befürwortern der Paulsplatzbebauung. Nach seiner Meinung sollte das Haus der Demokratie an der Stelle stehen, wo sich früher die Alte Börse befand, also entlang der heutigen Berliner Straße. Auf einer Podiumsdiskussion, die vor Kurzem unter dem Titel „Das Bauwerk der Demokratie“ in der Paulskirche stattfand, stellte er selbst die entscheidende Frage: „Wie kriegt man die Stadtverordneten dazu, gegen ihren eigenen Koalitionsvertrag zu entscheiden?“
Undenkbar wäre das natürlich nicht. Koalitionsverträge sind Absichtserklärungen, die von den Beteiligten revidiert werden können. Schwerer als die formalen wiegen die politischen Bedenken. Der Paulsplatz ist trotz seiner schmucklosen, gemessen an der Platzgröße zu niedrigen Randbebauung und des steten Verkehrsstroms der Berliner Straße ein zentrales städtebauliches Element im Viertel zwischen Zeil und Mainufer, also im Kern der Innenstadt. Über die für Frankfurter Verhältnisse weitläufige Fläche öffnet sich der Blick in Richtung Römerberg, Skyline – und nicht zuletzt auf die Paulskirche selbst.
Letzteres ist nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis der Weltkriegszerstörungen. Schon während des Baus der Paulskirche hatte Goethe bemängelt, dass das klassizistische Oval von der umgebenden Bebauung eingezwängt werde, dass ihm der Platz fehle, der es zur Geltung kommen lassen könnte. 1952 entschied man sich nicht grundlos dafür, die Reste der von Fliegerbomben schwer getroffenen Alten Börse abzureißen, womit die schon vier Jahre zuvor wiederhergestellte Paulskirche ihre volle Wirkung entfalten konnte.
Heute wird der Paulsplatz für Veranstaltungen genutzt, als Ausweichfläche, wenn es auf dem benachbarten Römerberg zu eng wird, für den Weihnachtsmarkt, aber auch für politische Kundgebungen und Demonstrationen. Ihn zu bebauen wäre somit auch in diesem Sinne paradox: Für ein Zentrum, das Ort des demokratischen Diskurses werden soll, würde ein Platz geopfert oder zumindest stark verändert, der bereits ein Ort des demokratischen Diskurses ist.
Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) ist kein kategorischer Gegner der Bebauung, aber er will im Zuge eines anstehenden Architektenwettbewerbs andere Optionen „rund um die Paulskirche“ sorgfältig prüfen lassen. Käme der Wettbewerb ebenfalls zu der Empfehlung, den Platz teilweise bebauen zu lassen und würde die Stadt diesem Rat folgen, dann wäre nach Einschätzung Josefs mit heftigem Widerstand zu rechnen. Schließlich sei der Paulsplatz „einer der wenigen öffentlichen Plätze in Frankfurt, die funktionieren“. Man stelle sich vor: Eine basisdemokratische Initiative, vielleicht ein Bürgerbegehren gegen ein „von oben“, also von Bund, Land und Stadt beschlossenes Zentrum, dessen höchstes Ziel es doch sein soll, demokratische Partizipation zu fördern – wenn das mal keine dialektische Situation wäre.
Die Befürworter einer Platzbebauung setzen darauf, dass es so weit gar nicht kommt. Sie hoffen, dass sie bei den Bürgern mit ihren Argumenten durchdringen können. Diese zielen darauf ab, dass die von Josef angesprochenen Optionen „rund um die Paulskirche“ keine echten Alternativen seien, wolle man die Wirkung des Demokratiezentrums und dessen Bezug zum historischen Ort nicht schmälern.
Nach derzeitigem Stand gibt es zwei Möglichkeiten, das Zentrum direkt an der Kirche, nicht aber auf dem Platz zu errichten: Entweder im Rücken der Kirche, wo sich derzeit ein von der städtischen Verwaltung genutzter Parkplatz befindet, oder im sogenannten Römer-Nordbau, der neobarocken Rathauserweiterung, die nach dem Krieg mit einem Flachdach instand gesetzt wurde und unter anderem Sitz der Kämmerei ist. Ein Demokratiezentrum als „Untermieter der Kämmerei“ mag Cachola Schmal sich allerdings nicht vorstellen, einmal davon abgesehen, dass das Gebäude hierfür völlig umgebaut werden müsste. Der Parkplatz komme schon deshalb nicht infrage, weil die zu bebauende Fläche nicht groß genug sei. Im Übrigen müsste die dort stehende „Walter-Kolb-Eiche“ gefällt werden, die symbolisch und ökologisch nicht weniger wertvoll sei als die Platanen auf dem Paulsplatz.
Eines wäre eine umgestaltete Kämmerei oder eine Parkplatzbebauung jedenfalls nicht: Symbolisch repräsentativ im Sinn einer „Signature Architecture“. Genau das aber schwebt der Expertenkommission vor: Der Neubau soll intuitiv vermitteln, dass Demokratie nicht nur Geschichte ist, sondern Gegenwart und Zukunft. Er soll sich architektonisch, zum Beispiel durch eine Glasfassade, in den Stadtraum öffnen und die Öffentlichkeit zur Partizipation einladen. „Der Raum der Demokratie muss die Leute hineinziehen“, sagt Volker Kauder.
Rainer Forst, der ebenfalls der Expertenkommission angehörte, deutet eine Kompromisslinie an: Vielleicht sei es möglich, in einem Neubau auf dem Paulsplatz nur die öffentlichen Funktionen des Hauses der Demokratie unterzubringen und so möglichst wenig Fläche zu beanspruchen. Die Verwaltung und Leitung könnten etwa in der Kämmerei untergebracht werden. So ließe sich vermitteln, dass der öffentliche Raum durch das Haus der Demokratie nicht kleiner, sondern größer werde.
Von Matthias Trautsch aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.07.2023, Die Drei (Rhein-Main-Zeitung), Seite 3 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv