Kriege, Migration und die Macht sozialer Medien sind die großen Themen der Gesellschaft. Das fordert die Demokratie heraus.
Von Rainer Forst
Frankfurt ist die deutsche Stadt, die in Sachen Demokratie ihrer Zeit schon immer voraus war. Das war 1848 ebenso der Fall wie 1948, als die Paulskirche in einem Geist der Erschütterung, aber auch des Neubeginns, in veränderter Form wieder aufgebaut wurde. Diese säkulare Kirche trägt die Narben der Geschichte des Scheiterns demokratischer Hoffnungen und symbolisiert zugleich die Beharrlichkeit derselben. So stellt sie, damals wie heute, die Frage nach der Zukunft der Demokratie. Angesichts wachsender politischer Verunsicherung und antidemokratischer Regression ist dies derzeit eine eher bange Frage.
In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, dass der geschichtsträchtige Ort der Paulskirche, wie es Stadt, Land und Bund und die von ihnen eingesetzte Expertenkommission vorsehen, saniert und flexibilisiert sowie um ein Haus der Demokratie erweitert werden soll. Letzteres soll den demokratisch-experimentellen Vorraum der großen Versammlung in der Paulskirche bilden, die dessen Diskussionen gebündelt und prominent aufnimmt. Darin liegt eine große Chance, denn die Demokratie bedarf einer aufgeklärten politischen Öffentlichkeit, die über die Herausforderungen, die zu bewältigen sind, kritisch und kontrovers reflektiert – auf der Suche nach Rechtfertigungen, die rational geprüft und allgemein legitimierbar sind. Wenn es gut geht, kann das neue Zentrum der Demokratie einen Vorschein auf gelingendes politisches Zusammenleben werfen und ein Zeichen setzen gegen die Verwahrlosung der Demokratie, die mit Sprachlosigkeit, Ressentiment und ideologischer Verirrung einhergeht.
Dabei kommt es nicht nur darauf an, worüber dort gesprochen wird, sondern auch darauf, wer mit wem spricht und auf welche Weise. Formate wie Townhall-Meetings und andere Diskursarenen müssen entwickelt werden, in denen offen und inklusiv diskutiert wird: zwischen Jung und Alt, Ost und West, Nord und Süd, Menschen mit und ohne deutschen Pass, auch über nationale Grenzen hinweg. Dabei sollen nicht nur prominente Köpfe und solche mit besonderer Expertise mit möglichst vielen anderen als Gleiche unter Gleichen sprechen. Denn es bedarf keiner besonderen Expertise, um sich zur gemeinsamen Sache, zur res publica, zu äußern; zuständig sind alle.
An Themen wird es nicht fehlen. Denn es sind große Transformationen, die gegenwärtige Gesellschaften herausfordern – und alle spielen im Kontext der antidemokratischen Tendenzen unserer Tage eine Rolle. Die wichtigsten seien kurz erwähnt. Erstens: Nach wie vor befinden wir uns in einer Phase der gesellschaftlichen Umwälzung, die sich nicht nur in Finanzkrisen wie 2008 manifestiert. Die transnationale Verflechtung ökonomischer Kreisläufe hat zu krisenanfälligen Abhängigkeiten geführt, sowie zu einer Entwicklung wachsender Ungleichheit, innerhalb wie auch zwischen Gesellschaften. Besonders im Osten Deutschlands, der einen mehrfachen Strukturwandel zu bewältigen hat, ist dies sichtbar. Das wirft nicht nur grundsätzlich die Frage nach einer ökonomischen Ordnung auf, die die Demokratie nicht untergräbt. Zugleich stellt sich die Frage, ob nationale Politik noch imstande ist, die globalen „Gesetze“ des kapitalistischen Marktes demokratisch zu beeinflussen und zu ändern. Manche antworten darauf mit dem Ruf nach transnationaler Politik, andere fatalistisch, und wieder andere folgen chauvinistischen Versprechungen, ein Land „wieder groß“ zu machen oder „Kontrolle“, etwa durch das Verlassen der EU, wiederzuerlangen.
Zweitens: Die verbreitete Neigung, Politik nationalistisch zu definieren, verstärkt sich im Kontext einer weiteren großen Transformation zu einer antidemokratischen Gefahr. Im Zuge globaler Migrationsbewegungen, ausgelöst durch Kriege, Repression und Armut, wächst die kulturelle und religiöse Pluralität. Zugleich nimmt die Einforderung der Gleichberechtigung bisher marginalisierter Gruppen, nicht nur auf Migration bezogen, zu. Teile der Bevölkerungsgruppe aber, die bislang dominierte, sehen sich als „eigentliches“ Volk an und wehren Veränderungen vehement ab. Mit dem Reizthema „Einwanderung“, aber auch mit Bezug auf die „rechte“ Ordnung der Geschlechter erzielen autoritäre, fremdenfeindliche Parteien und Personen beträchtliche Wahlerfolge, Tendenz steigend. Ein Haus der Demokratie muss diese Kontroversen aufnehmen; dabei gilt es, daran festzuhalten, dass die Demokratie kein Instrument der Einschränkung von Menschen- und Gleichheitsrechten sein darf. Gerät sie auf dieses Gleis, verroht sie.
Drittens: Mit jedem Tag wird deutlicher, was schon lange wissenschaftliche Gewissheit ist – der Klimawandel ist menschenerzeugt und gefährdet die Zukunft von Gesellschaften; auch dies ist ein Faktor bei der Migration. Die Ressourcen der Zukunft, nicht zuletzt das Wasser, werden knapper. Dass eine ökologische Transformation des Lebens und Wirtschaftens angezeigt ist, ist unstrittig in einer Demokratie, die sich der Rationalität verpflichtet weiß. Aber wie sie aussehen soll, darüber wird gestritten. Auch in einem Haus der Demokratie.
Viertens: Das Haus (wie auch die renovierte Kirche) wird selbst die digitale Transformation unserer Gesellschaften widerspiegeln. Es soll entsprechende Formate der Information und Partizipation entwickeln, die inklusiv und innovativ sind. Und es wird zu besprechen sein, wie sich das Leben durch digitale Medien verändert, die uns in immer neue, oft separate Wirklichkeiten führen. Wie können ideologische Welten von „fake news“ vermieden werden, wie wird Künstliche Intelligenz unser Denken und Handeln beeinflussen? Kurzum: Kann das Haus den Beweis antreten, dass es noch eine umfassende, deliberierende politische Öffentlichkeit gibt?
Fünftens: Der russische Überfall auf die Ukraine sowie die internationalen Reaktionen darauf zeigen es: dass eine multipolare Welt entstanden ist, in der der „Westen“ von vielen, historisch begründet, als ein feudaler Monopolist der Macht verstanden wird, der nur seine eigenen Interessen verfolgt. Die Zukunft der Demokratie, im Westen und anderswo, hängt davon ab, eine an Prinzipien des internationalen Rechts und fairen Wirtschaftens orientierte Politik zu verfolgen und dafür Allianzen zu bilden. Was dies bedeutet, wird zu diskutieren sein.
Es ist an der Zeit, ein Zentrum der Demokratie für Fragen dieser Art zu errichten. Frankfurt ist der Ort dafür. Aber es soll nicht nur ein Ort für Frankfurt sein. Denn die Zukunft der Demokratie hängt angesichts all dieser Herausforderungen davon ab, dass über Demokratie jenseits von Grenzen nachgedacht wird und sie sich umfassend erneuert. So ist das Haus auch eines der Praxis: Neue Formen der Beteiligung müssen ausprobiert werden, etwa in Bezug auf institutionelle Innovationen der Legislative. Brauchen wir Erweiterungen in der Form von Bürgerräten oder von dritten Kammern, in denen vernachlässigte Interessen, auch von Betroffenen, außerhalb der Grenzen, hörbar werden? Wie kann europäische beziehungsweise globale Demokratie entwickelt werden?
Die Debatte über das Haus sollte in erster Linie eine über seine Aufgaben sein. Die Standortfrage darf dies nicht überlagern. Die Expertenkommission kam zu dem Schluss, dass die Funktion des Hauses die Nähe zur Paulskirche erfordert; nur so kann das neue Zentrum als Einheit wirken. Daher schlagen wir vor, die öffentlichkeitsrelevanten Teile des Hauses (und nur diese) auf dem Paulsplatz zu errichten. Wie ein Gebäude aussehen kann, das den Blick auf die Kirche eröffnet und nicht verbaut, sollte für die zeitgenössische Architektur vorstellbar sein. Ob auf Säulen oder in den Boden sich vertiefend – wichtig ist, dass es einen Ort gibt, der große Anziehungskraft entfaltet. Die politische Öffentlichkeit bedarf seiner dringend.
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft zeichnete ihn mit dem Leibnizpreis aus. Er war Mitglied der Expertenkommission Paulskirche.
Von Rainer Forst aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 22.10.2023, RHEIN-MAIN Spezial Demokratie (Rhein-Main), Seite R4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv